Ein Tag im Leben der Achuar

Tsentsak ist ein Junge des indigenen Stamms der Achuar. Er lebt im ecuadorianischen Regenwald und erzählt uns, wie ein ganz normaler Tag in seinem Dorf aussieht. Und der Tag beginnt bereits sehr früh...

3:00 Uhr morgens

Die Frauen in unserem Haus stehen auf: meine Mama, meine Oma, die Tanten und meine älteste Schwester. Sie fachen die Glut in der Feuerstelle an und setzen einen Topf mit Wasser mitten auf das Brennholz. Das Wasser ist für den Wayusa-Tee, den alle Erwachsenen jeden Morgen trinken.

Auch die Männer im Haus stehen auf, und die Männer, die nachts jagten, kehren zu dieser Stunde heim. Wenn sie erfolgreich waren, bringen sie Wasserschweine, Tapire oder Wildschweine als Beute mit. Die Frauen zerlegen die Tiere und räuchern das Fleisch, damit es einige Tage haltbar bleibt. 

Von dem fertigen Wayusa-Tee trinken besonders die Männer mindestens drei grosse Schalen voll und dann gehen sie aus dem Haus und erbrechen, um sich innerlich zu reinigen. Das geschieht jeden Morgen. Wir nennen diese Zeit „Stunde der Wayusa“.

Der Wayusa-Tee enthält viel Koffein und dient der Reinigung. Wayusa ist eine Stechpalme, welche entfernt mit Yerba Mate verwandt ist (© Wayusa - Ancient Power e.U.).

4:00 Uhr

Die Alten sagen, dass man nach dieser Reinigung durch den Wayusa-Tee besonders klar denken kann. Deshalb finden alle wichtigen Gespräche in der Familie und mit Nachbarn zur Wayusa-Stunde statt. Da wird Streit geschlichtet und Wichtiges beschlossen. Uns Kindern wird erklärt, worauf wir im Leben achten müssen, was wir gut gemacht haben oder verbessern sollten. 

Die Grosseltern erzählen uns die Legenden unseres Volkes, meist lange Geschichten mit vielen Fortsetzungen, die manchmal ziemlich gruselig sind. Ich mag es lieber, wenn sie mit uns singen. 

Unsere Mama macht die schönsten Tongefässe und Schmuck aus Samen und Federn. In den Morgenstunden bringt sie uns das bei. Auch von Papa lernen wir. Er schnitzt gerne mit verschiedenen Hölzern. Er baut Musikinstrumente oder ein neues Blasrohr für die Jagd auf Vögel und Affen.

Kunsthandwerkt der Achuar: Wunderschöne Tongefässe und Schmuck aus Samen und Federn (© SFR rso).

5:30 Uhr

Allmählich wird es hell. Das Frühstück ist fertig, und die Frauen servieren den Männern Fleischsuppe und gekochte Yucca. Danach essen wir Kinder zusammen mit den Frauen in der Küche. Nach dem Essen bekommen alle eine Schale Chicha, unser liebstes Getränk. Es wird aus Yucca-Brei und Wasser zubereitet und schmeckt etwas säuerlich, das ist gut gegen den Durst. Beim Chicha-Trinken besprechen die Erwachsenen die Aufgaben des Tages.

Chicha ist vergorene Yuccawurzel, ein typisches Getränk der Achuar (© SFR rso).

6:30 Uhr

Die Sonne geht auf. Die Männer und Frauen verlassen das Haus, nur Opa bleibt sitzen und trinkt weiter seine Chicha. Papa und meine älteren Brüder helfen heute unserem Nachbarn beim Hausbau. 

Oma füttert die Hühner, den zahmen Papagei und das kleine Wasserschwein, das Papa fing und nun hinter dem Haus eingezäunt ist. Danach kehrt sie das Haus und den Hof. Mama und meine älteste Schwester gehen mit ihren Macheten und grossen Körben in den Garten. Sie holen Yuccawurzeln, Bananen, Palmsprossen und Papaya. Meine Schwester hat auch Tomaten und Erdnüsse gepflanzt. Ich laufe mit meinen jüngeren Geschwistern hinaus zum Spielen. Die Nachbarskinder warten schon.

Yucca, auch Moniak genannt, zählt in tropischen Gegenden zu den Grundnahrungsmitteln. Yucca ist so vielfältig verwendbar wie unsere Kartoffeln (© patrimonioalimentario).

7:30 Uhr

Für alle, die in die Schule gehen, beginnt der Unterricht in unserer kleinen Dorfschule um 7:30 Uhr und endet zwischen 12 und 13 Uhr. Das Schulhaus hat zwei Räume: die Klassen 1 bis 3 sitzen in einem Zimmer, die Klassen 4 bis 6 in dem Raum daneben. Wir haben zwei Lehrer. In anderen Dörfern gibt es oft nur einen Lehrer für alle 6 Klassen. Ich komme erst nächstes Jahr in die Schule, deshalb kann ich jetzt fischen gehen. Am meisten fange ich immer an der Mündung des Putuimi, das ist der Bach mit den vielen Putu-Fischen. Dort, wo der Bach in den grossen Strom fliesst, da sind die Putus und natürlich auch die anderen Fische.

Achuar-Kinder in der Schule (© AMAZONICA).

11:00 Uhr

Meistens komme ich schon früher vom Fischen zurück, weil es ab 10:00 Uhr schrecklich heiss wird, aber heute habe ich 5 Fische gefangen und 3 grosse Frösche, und unterwegs fand ich noch 2 riesige Waldschnecken. Die Schneckenhäuser sind grösser als meine beiden Hände zusammen. Deshalb musste ich den Weg zurück zum Dorf zweimal laufen, um alles tragen zu können. Mama hat sich gefreut, als ich so viel Beute in die Küche brachte, wie ein richtiger Jäger. Und Oma hat Nunkui, unserer Fruchtbarkeitsgöttin gedankt, und wir haben gemeinsam das schöne Nunkui-Lied gesungen.

Tsentsak trägt seine Beute ins Dorf zurück (© AMAZONICA).

11:30 Uhr

Die Sonne brennt, wir bleiben alle im Haus unter dem hohen Strohdach, dort ist es schön kühl. Alle Häuser haben zwei Räume: die Küche mit dem grossen Holzfeuer und den Bettgestellen, und den Wohnraum, in dem die Männer essen und Gäste empfangen. Opa schläft dort gerade in der Hängematte. Mama bereitet Chicha zu, Oma kocht, meine Schwester bemalt frisch gebrannte Trinkschalen aus Ton, und die Tanten spinnen Baumwolle. 

Ich passe in der Küche auf, was mit meiner Beute geschieht:die Frösche werden ausgenommen, auf Spiesse gesteckt und über dem Feuer geröstet – hm – das ist meine Leibspeise. Auch die Fische werden ausgenommen und zusammen mit Waldpilzen und Baumspinat in grosse Blätter gewickelt. Oma legt die Päckchen auf einen Holzrost hoch über dem Feuer, „damit der Fisch ganz langsam gart“, erklärt sie. Dann putzt Oma meine Schnecken, hackt sie und wickelt sie auch in Blätter zusammen mit Palmsprossen.

Tsentsaks Beute wird zubereitet (© AMAZONICA).

12:00 Uhr

Inzwischen sind die Männer von der Arbeit heimgekommen. Sie waschen sich am Brunnen und setzen sich im Wohnraum in eine Runde. Opa wacht auf und hockt sich zu ihnen. Alle sitzen auf geschnitzten Hockern, die wie hohe Schildkröten aussehen. Nun müssen die Frauen laufen, alle Frauen, denn die Männer haben Durst. Sie bringen die Schalen mit Chicha und reichen das Getränk im Kreis herum, von Mann zu Mann. Ich hocke mich neben Papa und erzähle ihm von meiner Beute. „Ayu, Tsentsak, penkeraiti“ (= Gut, Tsentsak, sehr schön), lobt mich Papa, und ich darf Chicha aus seiner Schale trinken. 

Die Männer berichten vom Hausbau und lachen laut, weil Onkel Ikiam (= Wald) ein Balken in den Bach fiel, und er rutschte gleich hinterher. Er ist immer ein richtiger Tollpatsch!

Hausbau bei den Achuar (© AMAZONICA).

13:00 Uhr

Meine grösseren Geschwister sind von der Schule heimgekommen. Jetzt legen die Frauen Bananenblätter vor die Männer auf den Boden und servieren darauf das Mittagessen, „mein Mittagessen“, und es reicht für alle, denn mittags essen wir wegen der Hitze nicht viel. Dafür wird mehr Chicha getrunken, erzählt und gelacht. Es ist immer lustig, wenn alle zusammen sind. Ich kann noch nicht weiter als bis 10 zählen, aber Papa sagt, wir sind 16 Familienmitglieder unter einem Dach: Papa und Mama, Opa und Oma, die zwei Tanten und wir 10 Kinder.

Mittagsbuffet (© AMAZONICA).

15:00 Uhr

Bald ist es nicht mehr so heiss, und wir können wieder aus dem Haus. Mein grosser Bruder Peem (= Donner) holt Feuerholz für die Küche. Danach will er mit seinem Blasrohr auf Vogeljagd in den Wald. Meine Schwestern machen Hausaufgaben. 

Da kommen meine beiden Cousinen Shampiu (= Eidechse) und Suwa (= Tintenfrucht). Sie sind schon 8 und 9 Jahre alt. Mit ihnen dürfen wir Kleinen Kanu fahren und auf die Sandbänke im grossen Pastaza-Strom hinaus. Ich nehme meinen jüngeren Bruder Nayem (= Himmel) mit. Wir müssen dringend auf die Sandbänke, denn es ist Charapa-Zeit. Charapa ist die Wasserschildkröte, die jetzt ihre Eier legt. Nach diesen Eiern sind alle Achuar verrückt. Mit unserem Kinderkanu paddeln wir zur nächsten Sandbank hinaus. Fehlanzeige! Hier war schon jemand Eier suchen. Der Sand ist rundherum aufgewühlt. Die nächste Sandbank

liegt nicht weit, so schwimmen wir hinüber und haben Glück. Die Spuren der Charapas zeigen uns, wo die Eier versteckt sind. Jetzt muss das Kanu her, denn so viele Eier können wir beim Schwimmen nicht tragen.

Achuar-Kinder fahren mit dem Kanu zu den Sandbänken (© AMAZONICA).

16:30 Uhr

Wo Schildkröteneier sind, gibt es auch viele Fliegen, und gegen 17 Uhr kommen noch die Mücken dazu. Da macht es auf den Sandbänken keinen Spass mehr. Wir paddeln zurück ans Ufer und bedecken die Eier mit grossen Blättern, um sie vor Sonne und Tieren zu schützen, denn sie haben eine weiche Schale.

Gegen 5 Uhr gibt es immer den grössten Spass am Fluss. Da kommt das ganze Dorf zum Waschen und Baden. Die Frauen waschen die Wäsche und baden sich selbst und die Babys. Die Männer schwimmen um die Wette, und wir klettern auf die Bäume am Ufer und springen mitten in die Strömung. So spielen und lachen wir jeden Abend, bis um 6 Uhr die Sonne untergeht.

Gegen 5 Uhr gehen alle an den Fluss (© AMAZONICA).

17:30 Uhr

Heute steigen wir schon früher aus dem Wasser, denn Onkel Uyunkar (= Fischotter) kommt mit seinem grossen Einbaum vom Fischen zurück. Alle versammeln sich um das Kanu und staunen: einen so riesigen Tunkau (= Wels) haben wir nur selten gesehen! Er ist länger und dicker als Onkel Uyunkar selbst, und der hat wirklich einen fetten Bauch. Uyunkar lacht stolz und ruft: „Wer mir tragen hilft, darf mitessen!“ Da stürzen sich die Männer auf den Tunkau und schleppen ihn das hohe Steilufer hinauf.

Der dicke Wels wird bald verspeist (© Matthias Krug-Bamberg).

18:30 Uhr

Mama und Oma tragen grosse Töpfe voller Chicha hinüber zum Gemeindehaus. Auch aus den anderen Häusern kommen die Frauen mit Chicha, gekochter Yucca und gekochten grünen Bananen. Die gibt es als Beilage zu dem Tunkau, den mein Onkel dem ganzen Dorf spendiert. Wir essen Fischsuppe, und Fisch in Blättern gedünstet, und dann ist noch immer so viel Tunkau übrig, dass die Frauen ihn in grosse Stücke zerteilen und räuchern.

Für uns Kinder werden kleine süsse Bananen samt der Schale in der Glut gebacken. Onkel Uyunkar sieht, wie wir das heisse Bananenmus aus den Schalen schlecken. Da bestellt er sich auch gebackene Bananen zum Nachtisch und isst gleich 8 Stück. Deswegen wird sein Bauch immer dicker. Es gibt noch eine Runde Chicha für alle, und dann zieht jede Familie nach Hause.

Gemütliches Beisammensein (© AMAZONICA).

20:00 Uhr

Opa spielt auf seiner Flöte und singt. Papa zupft die Maultrommel und Tante Shiram (= die Schöne) singt Lieder von Vögeln, die uns Nachrichten bringen. Aber leider kann die schöne Tante gar nicht schön singen, deshalb löscht Mama bald die Fackeln im Haus, und wir legen uns alle zum Schlafen auf die hohen Gestelle aus Bambus. Keiner liegt alleine, wir schlafen gern zu dritt und zu viert. Ich darf heute zu Papa auf das Bett klettern. Mama und meine kleine Schwester liegen schon dort. Wir sind eine glückliche Familie, und heute war ein besonders schöner Tag.

„Kashin“ = gute Nacht und bis morgen!

Vielen lieben Dank Tsentsak für diesen spannenden Einblick in Deinen Alltag! (© AMAZONICA)

Geschichte mit freundlicher Genehmigung von Mascha Kauka, AMAZONICA.